Schüler bringen Stolpersteine zum Sprechen
Gedenken des Dekanats in der Bad Emser Friedrichstraße dokumentiert, mahnt und bewegt
BAD EMS/RHEIN-LAHN. (13. November 2023) Überall im Rhein-Lahn-Kreis wurde in der vergangenen Woche und am gestrigen Sonntag an die Geschehnisse des 9. November 1938 erinnert, als Hass und Hetze gegen die deutsche Bevölkerung jüdischen Glaubens offen in Gewalt ausbrach und in der grausamen Ermordung von sechs Millionen Menschen gipfelte. „Ich freue mich, dass so Viele hier sind, aber dass die Polizei dabei sein muss, macht traurig“, sagte Lothar Knothe vergangenen Donnerstag in Bad Ems. Als Vertreter jüdischen Glaubens begleitete er zusammen mit Wolfgang Elias Dorr das Gedenken in der Friedrichstraße. Dorthin hatte das evangelische Dekanat Nassauer Land mit Ökumene-Pfarrerin Antje Müller eingeladen. Kreis, Stadt, Schulen und jüdische Akteure gestalteten die Erinnerung in der Kreisstadt.
Am Ort des Gedenkens – daran erinnert der von Lies Ebinger gestaltete Handwerkerbrunnen – lebten bis zu den 1930-er Jahren Metzger, Bäcker, Maler, Schlosser, Schneider und andere Handwerker in guter und friedlicher Nachbarschaft zusammen. Ein Grund für den aufkeimenden Holocaust spricht Pfarrerin Müller gleich zu Beginn des Abends an: die Angst, selbst zum Opfer der Nazis zu werden, wenn man das Unrecht beim Namen nennt. Während sein älterer Kollege in der Emser Dorfkirche in seiner Sonntagspredigt zur brennenden Synagoge schwieg, nahm der damalige Pfarrvikar Willi Göttert in der Kaiser-Wilhelm-Kirche, in der auch ein Gestapo-Beamter auf der Empore saß, allen Mut zusammen und erklärte mitten in der Predigt: „Was vorgestern an unseren jüdischen Mitbürgern und ihrem Gotteshaus geschehen ist, das war Unrecht und Sünde gegen Gottes Gebot.“ Nur durch die Fürsprache eines früheren Schulkameraden blieb ihm letztlich die Abholung in ein Konzentrationslager erspart.
Wie es passieren konnte, dass in einer normalen und Wärme ausstrahlenden nachbarschaftlichen Umgebung wie der Friedrichsstraße „nicht aufbegehrt wurde, wenn Menschen diskriminiert, von Schulbesuch und gemeinschaftlichem, auch politischem Leben ausgeschlossen wurden“, fragte die Erste Beigeordnete des Rhein-Lahn-Kreis Gisela Bertram. Neben der erwähnten Feigheit machte sie noch einen anderen Grund aus: die von den Nazis ausgenutzten vorhandenen Vorurteile gegen Juden. Dass Juden aus Angst vor verbaler und körperlicher Gewalt heute wieder keine Kippa tragen, zeige dies: „Wir sind mitten drin in einem offen gezeigten Antisemitismus“.
Wie damit umzugehen ist, gerade mit Blick auf den aktuellen Terror der Hamas im Gazastreifen, fragte der Bad Emser Stadtbürgermeister Oliver Krügel und warnte vor der Verschiebung von Tabus, die aus Respekt vor den Opfern des Unrechtsregimes vor Jahren noch undenkbar gewesen wären. „Hetze und Hass greifen nicht nur im Internet um sich“, so Krügel. „Rechtspopulisten, Antisemiten und Rassisten versuchen, einen Keil zwischen die verschiedenen Gruppen in unserer Bevölkerung zu treiben und gefährden damit den gesellschaftlichen Frieden“, mahnte er, sich auf allen politischen Ebenen, auch in Bad Ems, gegen das Vergessen zu stellen und das Wissen um die ganze deutsche Vergangenheit und die Verpflichtung daraus an kommende Generationen weiterzugeben.
Dafür waren Schülerinnen und Schüler des Goethe-Gymnasiums Bad Ems und der Realschule plus Bad Ems-Nassau ein Beispiel, die zusammen mit ihren Lehrern Elisabeth Knopp und David Schmidl das Gedenken bereicherten. Ihr Wissen um die Geschichte konnte nicht nur auf einem Tablet am Boden neben Blumen und Kerzen nachgelesen werden. Ganz konkret stellten sie Biographien von jüdischen Menschen allen Alters vor, die einst in der Friedrichstraße lebten und unter den Augen der Bevölkerung von dort in Flucht vertrieben und in Konzentrationslager deportiert wurden. So brachten die Schüler die Stolpersteine in der Straße zum Sprechen.
Sie zitierten die Bad Emser Künstlerin Lies Ebinger, die ihnen 2019, ein Jahr vor ihrem Tod, noch vom friedlichen Zusammenleben in der Friedrichsstraße berichtete. Sie wuchs dort auf und erlebte, welch unfassbare Zerstörung die Nazi-Horden anrichteten, sowohl an Sachen und Gebäuden als auch an Menschen. Die nüchterne Beschreibung der Einzelschicksale, ihre Deportation machte betroffen. Auch an den Metzgersohn Bernhard Strauss erinnern sie, der die Hölle der Konzentrationslager überlebte und nach seiner Rückkehr nach Bad Ems seine Fassungslosigkeit über das mangelnde Schuldbewusstsein in einem Buch „...und ihr habt alle Heil geschrien“ dokumentierte. Eines vieler erschütternder Beispiele: die evangelisch getauften Kinder von Emmi Strauss, die als Halbjuden erst schikaniert und schließlich getötet wurden.
Neben Dokumentation und Mahnung bot das Gedenken des Dekanats sehr bewegende Momente. Beispielsweise, als David Schmidl etwa seine Gedanken beim Reinigen der Stolpersteine als „zarte Verbindung zwischen der Gegenwart und dem Schatten der Geschichte“ beschrieb. Beim Verlesen der ermordeten und deportierten Bad Emser, für die nach und nach 55 Kerzen angezündet wurden, kam die Stimme angesichts der unsagbaren Verbrechen, die vor Kindern nicht Halt machten, ins Stocken ebenso während eines hebräischen Gebets für die Verfolgten und Ermordeten in den einzeln aufgezählten Konzengtrationslagern.
Verbunden wurden die Wortbeiträge mit sehr eindringlicher, teils melancholischer Musik von Katja Satolokina (Tenorblockflöte) sowie Constantin Tererschkin (Klarinette und Gesang). Neben dem Segen, den Antje Müller und Wolfgang Dorr an die Anwesenden weitergaben, nahmen diese auch den Gedanken Gisela Bertrams mit in ihr sicheres Zuhause: „Nicht nur nicht vergessen, sondern mit offenem Mut an der Seite unserer jüdischen Mitbürger zu stehen, für sie einzustehen, ein jeder von uns an seinem Platz, das ist unsere Pflicht!“
Bernd-Christoph Matern
Zu den Fotos:
An vielen Orten im Rhein-Lahn-Kreis wurde an den 9. November 1938 erinnert, mit dem der Hass auf Bürger jüdischen Glaubens offen in Gewalt ausbrach. Vor den aktuellen antisemitischen Entwicklungen wurde in Bad Ems in der Friedrichstraße gewarnt. Fotos: Matern