RPN BE091122Schueler becrima

„Gut, dass die Jugend anders denkt“

Gedenken zum 9. November in Bad Ems erinnert mit Biografien an grausame Verfolgung der Mitbürger jüdischen Glaubens

 BAD EMS/RHEIN-LAHN. (10. November 2022) Es war ein seltener, aber bewegender Besuch von Nicole Feldmann gestern in Bad Ems: Großeltern und Tante lebten dort und mussten als Bad Emser jüdischen Glaubens die Gräueltaten der Nazi-Diktatur erfahren. Vor dem Bad Emser Kurhaus hatte das evangelische Dekanat Nassauer Land am Jahrestagung der so genannten Reichspogromnacht zum Erinnern eingeladen. Gegenüber des einstigen Geschäftes der Familie Königsberger in der Römerstraße begrüßte Ökumene-Pfarrerin Antje Müller dazu etwa 80 Menschen.

RPN BE091122StolpersteineRosen becrima Am Boden vor dem Haus markierten ein Strauß weißer Rosen und vier Kerzen die vier Stolpersteine für Adolf und Fanny Königsberger, für Louis und Flora Jessel, die dort lebten. Lebendig und eindrücklich wurde deren leidvolles Schicksal von Schülerinnen und Schüler des Goethe-Gymnasiums und der Realschule plus ins Bewusstsein gerückt. Die einen zeigen Bild-Biografien, die anderen erzählen, wie sich der Alltag der Familie Königsberger ganz konkret mit der systematischen Verfolgung veränderte, wie etwa ärztliche Behandlung verweigert wurde, in der Stadtverordnetenversammlung kein Platz mehr für engagierte Politiker jüdischen Glaubens war; wie sie deportiert oder in den Suizid getrieben wurden.

RPN BE091122StolpersteinFanny becrima Bewegend etwa die Schilderungen der Gymnasiasten über das Schicksal von Fanny Königsberger. Deren ganze Verzweiflung kommt in ihrem Abschiedsbrief zum Ausdruck, den die Schüler zitieren. Sie schrieb ihn im Arbeitslager Friedrichssegen drei Tage, bevor sie ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde. Ein „Pechvogel“ sei sie, weil es ihr nicht gelungen sei, sich das Leben zu nehmen, um in Bad Ems begraben zu werden, wo sie fast 75 Jahre gelebt hatte.

So sachlich und detailliert die Jugendlichen die Vorfälle und Lebensdaten aufzählen, so fassungslos machen die Verbrechen und dass „die deutsche Bevölkerung tatenlos zuschaute“, wie Antje Müller zu Beginn sagte. Dabei erinnerte sie an den Pfarrvikar Willi Göttert, der die menschenverachtende Verfolgung als einer der wenigen offen anprangerte. „Wie viele Kapitel mit einzigartigen Biographien hätte man noch füllen können“, sagte David Schmidl von der Realschule plus, als er das interaktive Bild-Projekt seiner Schüler vorstellte. Die Beschäftigung mit den Einzelschicksalen jüdischer Menschen, der Blick in ihren Bad Emser Alltag, macht den Schülern sicher viel deutlicher bewusst, was zwischen 1938 und 1945 geschah als die reinen Geschichtsdaten. Es sei schrecklich, dass es immer noch Leute gibt, die das verharmlosen, erklärte Landrat Jörg Denninghoff. Er lobte das Engagement der Schüler, die sich so intensiv mit dieser deutschen Vergangenheit ganz konkret in ihrer Region beschäftigen.

RPN BE091122Viele becrima Die musikalische Begleitung des ökumenischen aRPN BE091122Klezfluentes becrima Gedenkens in der Römerstraße hatte das Klezmer-Duo „Klezfluentes“ mit einfühlsamen jüdischen Liedern übernommen. Die Schülerinnen und Schüler zündeten zusammen mit dem katholischen Gemeindereferenten Ralf Cieslik von der der Pfarrei St. Martin-St. Damian für die einst in Bad Ems lebenden und ab 1938 systematisch verfolgten Bürger eine Kerze an und nannten ihre Namen. Lothar Knothe und Wolfgang Elias Dorr sprachen als Vertreter des jüdischen Glaubens Gebete in Hebräisch; ein Vater Unser und ein Segen beendeten die Gedenkstunde.

Nicole Feldmann zeigte sich sehr dankbar für die Einladung von Geschichtslehrerin Elisabeth Knopp zu dem Gedenken, das sie sehr bewegt habe, hatte sie doch nie Gelegenheit, ihre Familie kennen zu lernen. Es sei ein trauriger Gedenktag. „Aber es ist gut, dass es ihn gibt, damit sich so etwas nicht wiederholt“, sagte sie. Begeistert war sie vom Engagement der Schülerinnen und Schüler, mit denen sie am Mittag bereits die Gräber ihrer Angehörigen auf dem jüdischen Friedhof besuchte. „Die Jugend denkt heute anders. Das zu erleben, hat sehr gut getan“, sagte sie am Abend. Bernd-Christoph Matern

Zu den Fotos:

Schülerinnen und Schüler erinnerten vor dem Kurhaus an das Schicksal der Bad Emser Familie Königsberger. Blumen lagen an den Stolpersteinen vor dem Haus, wo sie gelebt haben, bevor die Gewalt gegen Nachbarn und Bürger jüdischen Glaubens am 9. November 1938 offen ausbrach. Die Ökumene-Pfarrerin des Dekanats Nassauer Land Antje Müller konnte viele Besucher zu dem ökumenischen Gedenken in der Kreisstadt begrüßen. Fotos: Matern

Hier finden Sie einen SWR-Beitrag über das Engagement der Schülerinnen und Schüler und die gestrige Begegnung mit Nicole Feldmann.