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Corona kann keine Strafe Gottes sein

In der Liebe Gott erfahren: Pater Peter Harr propagiert in Lebenswerk, dem Egoismus das „Du“ entgegen zu setzen

KOBLENZ/RHEIN-LAHN. (10. Mai 2021) „Corona kann keine Strafe Gottes sein!“, sagt Pater Peter Josef Harr. Das ist nur eine kleine aktuelle Ableitung aus dem, was der Theologe in seinem neuen Buch veröffentlicht hat. Ende vergangenen Jahres zog sich der gebürtige Lahnsteiner und Pater der Arnsteiner Ordensgemeinschaft endgültig aufs Altenteil zurück und von Bad Ems nach Koblenz. Sein Buch „Was eigentlich glauben wir?“ ist neben einem wunderschönen Abschiedsgeschenk an die Zeit im Rhein-Lahn-Kreis, ein tiefsinniges und weises Resümee seiner theologischen Bibel-Studien und Erfahrungen, die der 72-Jährige als vertrauensvoller Begleiter unzähliger Menschen und Beobachter der Gesellschaft gemacht hat. Es ist zugleich eine Antwort, wie der eruptive Einbruch des christlichen Glaubens mit einer negativen Entwicklung der Gesellschaft und deren Verunsicherung einhergeht.

Mit den 524 eng bedruckten Seiten in acht Kapiteln beschert Harr viel mehr als nur eine „biblisch spekulative Reflexion über das Christentum“, wie es fast etwas vorsichtig bescheiden im Untertitel heißt. Sein Buch ist ein Plädoyer für die Liebe. Ein großes Wort, das gleichzeitig mit einem großen Geheimnis verbunden ist. Und eben jenem Geheimnis spürt der Theologe nach. Mit oberflächlichen zeitgeistigen Interpretationen, dass man etwa erst sich selbst lieben müsse, um andere lieben zu können, gibt sich der Autor nicht zufrieden. Er geht dem Geheimnis viel tiefer auf den Grund und sucht nach Hinweisen und Wegen, wie dieses zutiefst menschliche Grundbedürfnis mit Gott, Jesus Christus und dem Alten wie Neuen Testament der Bibel in Einklang steht.

WrtlichHarrDabei spricht aus dem Werk nicht nur ein kluger Theologe, sondern auch der erfahrene Seelsorger, der Zeit seines Lebens nah bei den Menschen war und deren Ängste und Sorgen kennt. Nicht umsonst beginnt das Werk mit der so schlicht wirkenden Weisheit des Schlagers „Nur die Liebe lässt uns leben“ von Mary Roos. „Dem Anderen das Beste wollen, dass er glücklich werde“, ist ihm als Definition zu wenig, sei es doch mit einem Eigeninteresse des Liebenden verbunden, was das Beste ist. „Zum Wesen der Liebe gehört notwendig die Freiheit“, schreibt Harr, was keinen Freibrief für Willkür bedeute. Seine Schlussfolgerung: Der heutige Mensch, wenn er als Mensch überhaupt noch eine Zukunft haben will, müsse aus der Verabsolutierung seines Nur-Ichs, sprich des Egoismus, wieder zum „Du des Mitmenschen“ zurückfinden, um in der Begegnung mit ihm erst „er selbst“ zu werden.

Aus dem kindlichen „lieben Gott“ wird ein Gott, der selbst die Liebe ist. „Jeder, der liebt, erkennt Gott“, ist eine Kern-These des Autors. Dabei denkt der Theologe, Philosoph, Deutsch- und Religionslehrer nicht von oben herab, sondern vom Menschen her. Der evangelische Pfarrer Wilhelm Schmidt, ehemaliger Vorsteher des Diakoniewerks Friedenswarte in Bad Ems und ein Freund Harrs, bringt das im Vorwort so zum Ausdruck: „Peter Harr entwickelt eine Theologie von unten.“ Die setze nicht bei den „theologischen Loci“ von Gott, Christus und Kirche an, „sondern beginnt bei dem Menschen in seiner existenziellen Angewiesenheit auf Kommunikation und Liebe“.

In den Betrachtungen, die auf dem Johannes-Evangelium basiert, wo es heißt „Wir wollen einander lieben; denn die Liebe ist aus Gott“, wird die Bibel nicht mehr in eine Zeit vor und nach Christus, vor und nach Ostern unterschieden. Vielmehr bildet die Dreifaltigkeit von Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist eine Grundlage. Es lohne, die Welt von dieser Struktur her zu denken, erklärt Harr. So sei der Heilige Geist eine Klammer, die die Bibel sowohl als wahres Menschen- als auch Gotteswort verbinde, wie Wilhelm Schmidt schreibt. Die Bibel werde nicht als Sammlung geschichtlicher Dokumente gesehen, sondern als Gesamtentwurf. „Harr setzt gleichsam Mose, Abraham und die Propheten mit Jesus an einen Tisch und bringt sie in fruchtbare Gespräche miteinander und mit uns.“

Mögen sich Theologen daran reiben – für Harr ist diese Art Lebenswerk eine Erkenntnis aus Hinhören und -sehen in seiner Jahrzehnte währenden Erfahrung mit menschlichen Schwächen und Stärken in aller Welt. Vor allem seit seiner ihn tief prägenden Zeit von 1994 bis 2007 als Priester in Argentinien sieht er Glaube, Welt und Heilige Schrift mit anderen Augen, insbesondere eben denen der Liebe. „Ich lese die Texte und erkenne Dinge, die ich vorher gar nicht erkannt habe“, erinnert er sich an die sich verändernde Bibellektüre und den Beginn der Gedanken, die er in dem Buch zusammengefasst hat. Schon vor 20 Jahren hatte Harr eine bemerkenswerte zeitkritische Analyse unter dem Aspekt der Liebe mit der Überschrift „Bedrohtes Menschsein“ verfasst, die im LIT Verlag erschien.

„Ich habe in Argentinien so viele arme Menschen gesehen, die fröhlich waren“, erinnert sich Harr. Die Armut habe ihn berührt, vor allem aber, dass die Menschen von dem Wenigen, das sie hatten, alles geteilt haben. „Wir müssen mit offenen Augen durch die Welt gehen, auch bei uns gibt es Armut“, sagt der Theologe und Autor. Dabei ist Harr kein Träumer. Der Mensch sei ein schwaches Wesen und es sei ein schwieriger Prozess, den Egoismus, das Habenwollen, zu stoppen. Der Mensch wolle die Welt in den Griff bekommen, selbst Gott sein. Wer die Welt aber wirklich begreifen und verstehen wolle, dem helfe die Auseinandersetzung mit der Bibel, wirbt er für das Buch der Bücher. „Die Menschen müssen wieder Sensibilität entwickeln, Empathie, die Fähigkeit des Mitleidens!“, wünscht er sich nach 45 Dienstjahren als Priester. „Der Himmel ist kein Ort, der Himmel ist eine Beziehung“, sagt er. Jeder neue Tag sei eine Chance, den inneren Schweinehund zu überwinden.

Gott könne nicht strafen, wenn er die Liebe sei, hält er auch die Corona-Pandemie für keine von Gott gewollte Krankheit und Krise, zumal es sich nur um ein punktuelles Ereignis handele, die Liebe aber die Dimension der Ewigkeit eröffne. Bernd-Christoph Matern

Peter Josef Harr: „Was eigentlich glauben wir?“
GRIN Verlag 2020
ISBN 9783346226686

Zum Foto:
Nur die Liebe lässt uns leben: Pater Peter Harr hat zum Abschluss seiner Dienstzeit ein Buch publiziert, wie das menschliche Bedürfnis nach Kommunikation und Liebe mit dem christlichen Glauben verbunden ist. Foto: Matern