Heimkinder mussten nach einem festen Regelwerk funktionieren

Ausstellung in der Stiftung Scheuern beschäftigt sich mit dem Schicksal der Heimkinder in den Jahren 1945 bis 1975

 NASSAU/RHEIN-LAHN. (6. Februar 2019) „Wir möchten den Menschen ermöglichen, ihren eigenen Wurzeln auf die Spur zu kommen“, stieg Markus Fehlhaber, Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde der Stiftung Scheuern, ins Geschehen ein. Menschen, die in den Jahren 1945 bis 1975 als Kinder und Jugendliche im Heim gelebt haben, dort einer autoritären Pädagogik, zum Teil auch Gewalt ausgesetzt waren und von diesen Erlebnissen nicht selten bis heute stark geprägt sind, widmet sich eine Wanderausstellung, zu deren Eröffnung die evangelische Kirchengemeinde gemeinsam mit dem Vorstand der Stiftung Scheuern in den Versammlungsraum der Einrichtung einlud.

Noch bis einschließlich Mittwoch, 27. Februar, geben dort 15 mit Informationen gespickte Schautafeln Auskunft über die so genannte Heimkinderzeit. Zwölf dieser Roll-ups hat die Projektgruppe Heimkinder der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) erstellt. Sie drehen sich um allgemeine Aspekte wie die verschiedenen Heimkategorien, die Gründe, weshalb Kinder damals ins Heim kamen, oder die rechtlichen Grundlagen der amtlichen Fürsorge. Dazu kommen drei Roll-ups, die den Fokus auf die Situation in Scheuern richten: Unter welchen Rahmenbedingungen lief das Leben hier in den 1950er- und 1960er-Jahren ab? Wie sah der Alltag in Scheuern aus? Und wie hat sich die Pädagogik schließlich auch hier allmählich gewandelt? Das sind die Kernfragen, auf die sich dort Antworten finden. „Von den Einrichtungen, bei denen wir die Wanderausstellung bisher gezeigt haben, ist die Stiftung Scheuern die erste, die sie durch eigene Tafeln ergänzt hat“, betonte Anette Neff, Leiterin der Projektgruppe Heimkinder der EKHN, bei der Ausstellungseröffnung, und fügte hinzu: „Ich finde es großartig, dass sie sich so offensiv damit auseinandersetzen.“

Lange Zeit habe die Öffentlichkeit das Thema totgeschwiegen oder zumindest nicht in seiner Bedeutung wahrgenommen, gab die Historikerin in ihrem Vortrag „Von Pippi Langstrumpf und den Schmuddelkindern – Kinder und Jugendliche im Heimsystem der Nachkriegszeit bis in die 1970er-Jahre“ zu bedenken: „Auch die Betroffenen selbst haben geschwiegen. Denn Heimkind zu sein, war ein Stigma. Erst als sie älter wurden, versuchten diese Menschen, sich zu erinnern.“ Auf diesem Hintergrund sei auch die 2012 gestartete Beschäftigung der EKHN mit der Heimkinderzeit zu sehen: „Ein wichtiges Anliegen für die Betroffenen ist die Suche nach den Orten und Institutionen, in denen sie untergebracht waren.“ Diese Suche gestalte sich in der Praxis zwar oft schwierig, aber, so Anette Neff: „Die ehemaligen Heimkinder haben ein Recht darauf, dass wir uns bemühen, es herauszufinden.“

Als Fallbeispiel berichtete sie vom Schicksal einer Betroffenen namens Sonja. Als der Partner ihrer Mutter versuchte, das junge Mädchen zu vergewaltigen, zeigte ihn Sonjas Großmutter an. Doch vor Gericht behauptete die Mutter, ihre Tochter lüge. Der Richter wies Sonja für vier Jahre in ein Heim ein. Dort durften die Kinder nicht miteinander reden, weil ein striktes Schweigegebot herrschte. Obwohl Sonja durchaus das Zeug zum Studieren gehabt hätte, zwang man sie, eine Schneiderlehre zu machen. Einen Schulabschluss hat sie bis heute nicht. Und: Wie sehr diese Erfahrungen ihr über die Zeit im Heim hinaus zu schaffen gemacht haben, zeigt die Tatsache, dass sie später versuchte, sich das Leben zu nehmen.

„Das schlimmste Verbrechen an den Kindern war, dass man ihre Seele nicht gestärkt hat“, verdeutlichte Anette Neff. Kinder, die man, wie es einem Heim in Hessen der Fall war, mit einer Nummer statt mit ihrem Namen ansprach. Die nach einem festen Regelwerk in der Gruppe funktionieren mussten, häufig von Menschen ohne pädagogische Ausbildung betreut und bei Fehlverhalten in einem geschlossenen Raum ohne Licht eingesperrt wurden. „Für mich ist es schlimm zu erleben, wie dankbar diese ehemaligen Heimkinder sind, wenn man ihnen zuhört“, bekannte die Referentin, betonte aber auch: „Es gab auch gute Heime. Und in vielen Fällen war das Heim besser als das, was die Kinder zu Hause erwartete.“

Man dürfe das damals Geschehene nicht relativieren, müsse es aber differenziert betrachten, betonte auch Pfarrer Gerd Biesgen, theologischer Vorstand der Stiftung Scheuern. „Ja, auch hier in Scheuern gab es falsches Verhalten, Gewalt und Unrecht, und ich bitte die Menschen, die es erlitten haben, von Herzen um Verzeihung“, sagte er und fügte hinzu: „Zugleich hat es hier aber auch immer ehrliche Zuwendung, Nächstenliebe und verantwortliches Handeln gegeben.“

Eine Menge Stoff zum Nachdenken und Sich-Austauschen also – zumal, wie sich herausstellte, bei der Ausstellungseröffnung auch etliche Personen anwesend waren, die die Heimkinderzeit in Scheuern selbst miterlebt haben. Gelegenheit für einen solchen Austausch besteht im Rahmen der begleiteten Ausstellungstage, die die evangelische Kirchengemeinde der Stiftung Scheuern jeweils freitags am 8., 5. und 22. Februar von 15 bis 18 Uhr anbietet. Um 16 Uhr wird es an diesen Tagen ein Erzählcafé geben – „ein Treffen von Menschen, die von der Zeit damals erzählen möchten, und solchen, die etwas darüber erfahren wollen“, wie Pfarrer Fehlhaber es beschrieb. Ulrike Bletzer

 

Wann kann man die Ausstellung besuchen?

Während der begleiteten Ausstellungstage sowie sonntags nach dem Gottesdienst, der um 10 Uhr beginnt, steht ein Ansprechpartner für Fragen zur Verfügung. Eine unbegleitete Besichtigung ist montags bis freitags von 15 bis 20 Uhr sowie samstags, sonntags und feiertags von 12 bis 20 Uhr möglich. Sollte die Tür zum Versammlungsraum verschlossen sein, erhält man den Schlüssel im Bistro Orgelpfeife der Stiftung. Die Ausstellung läuft noch bis einschließlich Mittwoch, 27. Februar.


Zum Foto:
Noch bis 27. Februar widmet sich eine Ausstellung in der Stiftung Scheuern dem Schicksal von Heimkindern. Foto: Ulrike Bletzer