Wohnen auf dem Land: Wenn das ganze Dorf zur WG wird von Jung bis Alt

Wilfried Ilgauds stellt Ergebnisse aus Initiative-55-Projekt vor: Wohnen auf dem Land in Dessighofen hat viele Vorteile gegenüber Stadtleben

DESSIGHOFEN/RHEIN-LAHN. (18. Januar 2019) Alles drängt in die Städte, obwohl es dort schon lange keinen – erst recht für Durchschnittsverdiener erschwinglichen – Wohnraum mehr gibt. Wilfried Ilgauds ist nicht nur Ortsbürgermeister der 184-Seelen-Gemeinde Dessighofen. Seit mehr als zehn Jahren beschäftigt sich der Pensionär auch in der Initiative 55 plus-minus des evangelischen Dekanats Nassauer Land mit Gleichgesinnten sehr intensiv mit Wohnformen fürs Alter. Sein Fazit: Kleine Orte können wie Wohngemeinschaften funktionieren, sind höchst preiswert und bieten gegenüber Städten viel mehr Lebensqualität bis ins hohe Alter.

Draußen regnet und stürmt es, als Ilgauds im Dorfgemeinschaftshaus von Dessighofen zum Thema „Wohnen auf dem Lande“ spricht. Welche Erfahrungen der Ortschef der großen Schar an Interessenten zum Besten gibt, hat allerdings gar nichts von der Tristesse, die dem Landleben oft nachgesagt wird. Medizinische Versorgung, Gemeinschaft, kulturelle Angebote, kurze Wege und eine wunderschöne intakte Natur sprechen für einen Wohn- und Lebensraum, dem es an nichts fehlt. Wie Ilgauds seine Wahlheimat beschreibt, weckt sonnige Lust aufs Leben auf dem Lande. Dabei stützt er sich in seinem klar strukturierten Vortrag auf die anschaulich aufbereiteten Ergebnisse und Beobachtungen des Initiative-Projekts der vergangenen Jahre.

„Jede Generation will angemessen komfortabel, individuell und unabhängig sowie in angenehmer Gemeinschaft mit privater Schutzzone leben“, schickt der Ortschef und Projektbetreuer als allgemeinen Wohn-Anspruch zwischen Flensburg und Garmisch voraus und macht gleich zu Beginn deutlich, dass Lebensqualität für ihn nur im Miteinander unterschiedlich alter Menschen zu erreichen ist. Probleme des Landlebens sind ihm bewusst. Wer kümmert sich ums Schulkind der alleinerziehenden berufstätigen Mutter, wer um den Einkauf der älteren Frau, deren Kinder weit weg wohnen? Und wie sieht es mit dem öffentlichen Personennahverkehr aus? Das sind Fragen, die auch viele Kommunalpolitiker aus der Nachbarschaft zum Forum locken. Der volle Saal zeigt die Relevanz des Themas. „Die Jugend wächst heute anders auf“, formuliert der 72-Jährige den Ist-Zustand. „Wir hatten noch eine verlässliche Lebensplanung; heute muss man flexibel sein für Ausbildung und Beruf.“

Aus den gängigsten Wohnformen im Alter – in der Familie, allein bis zum Seniorenheim – pickt der Dessighofener Ortschef drei konkrete Beispiele in der Region heraus: ein Mehrgenerationenhaus, Betreutes Wohnen in einem Wohnheim und eine Wohngemeinschaft . Diese vergleicht er darauf, was sie an Wohnfläche, Ernährung, Pflege und Haushalt, medizinischer Versorgung und sozialer Integration zu bieten haben und was das kostet. Seine Erkenntnis: Wer genug Geld hat, kann sich die größte Wohnung, beste Ernährung und jegliche Haushaltsdienste leisten; Pflegeangebote seien ohnehin immer vom Einzelbedarf abhängig, und bei der medizinischen Versorgung gebe es kaum Unterschiede, wenn man nicht direkt neben einem Krankenhaus wohnt oder mit einem Mediziner unter einem Dach. Das höchste Maß an sozialer Integration hat er allerdings in einer Wohngemeinschaft im Westerwald ausgemacht, solange man kein Schwerstpflegefall ist.

Und da zieht Ilgauds die Parallelen zum eigenen Dorf. Er sieht es als Mehrgenerationendorf und Modell einer Wohnform, in der sich jedes Alter wohlfühlt, denn die Mischung entspricht der eines Mehrgenerationenhauses. Seine Überzeugung: „Je größer der Ort, desto anonymer geht es zu, je kleiner, desto besser funktioniert das Modell.“ Ein Schaubild zeigt detailliert die Wohnformen in Dessighofen. Sie reichen vom Single-Haushalt bis zur Großfamilie. „Um letztere muss ich mir keine Gedanken machen; da unterstützt einer den anderen“, so Ilgauds.  Allen Einwohnern stünden in der kleinen Gemeinde aber die gleichen Dienstleistungen zur Verfügung wie in jeder Stadt.

Thema Kultur: „Wer sagt, auf dem Land ist nichts los, der hat keine Ahnung“, verweist er auf Veranstaltungsanzeigen für Events, Musik und Kabarett in der Tageszeitung oder allein auf die der Initiative 55 plus-minus, die vom gemeinsamen Frühstück bis zum abendlichen Theaterbesuch reichen. Auf bis zu 30 Angebote kommt er in nächster Nachbarschaft. „Und wenn ihnen etwas fehlt, nehmen wir es in der Initiative mit ins Programm.“ Essen auf Rädern, Pflege- und Bringdienste nennt er als weitere Vorteile für jedes Lebensalter.

Thema Einkaufen: Ob in München, Neumünster oder anderen Städten, in denen er beruflich bedingt lebte – die vermeintlich kurzen Wege habe er fast ausschließlich mit dem Auto zurückgelegt. Dort sei er wesentlich länger unterwegs gewesen als heute von Dessighofen aus, „die Parkplatzsuche und deren Kosten noch gar nicht eingerechnet“. An einer Karte zeigt er Minuten und Kilometer, die seine Einwohner zurücklegen, um Einkaufen zu gehen oder etwa zum Arzt zu kommen. Acht bis 15 Minuten dauert es bis Nastätten, Nassau oder Lahnstein. Und wer kein Auto oder Mitfahrgelegenheit hat, könne den ÖPNV nutzen. „Da muss man zwar umsteigen, kommt aber trotzdem überall hin.“

Auch wenn mancher seiner Amtskollegen angesichts des Schwärmens etwas skeptisch die Stirn runzelt – die Fakten, die der Kommunalpolitiker und engagierte Rentier vorstellt, sind nicht von der Hand zu weisen. Selbst was die medizinische Versorgung anbelangt. Auch hier habe Dessighofen mit einer Notfallversorgung in drei bis 15 Minuten die Nase vorn. „Es ist ja nicht so, dass in anderen Wohnformen rund um die Uhr ein Arzt anwesend ist“, sagt Ilgauds. Die derzeit sieben First Responder der Gemeinde seien da eine große und zudem hoch motivierte Bereicherung, bis der Rettungswagen eintrifft. Die seien im Notfall nämlich schneller im Haus als die Ersthilfe andernorts, geschweige denn in einer Stadt. Anna-Laura Groß und Alexander Vatter-Riemke sind zwei von ihnen, die dem Forum ihre Einsatzbereitschaft und Ausbildung zum Sanitätshelfer vorstellen.

Damit das Miteinander in der Gemeinde erhalten bleibt, hat Ilgauds selbst Hand angelegt. Die Besucher führt er zu zwei von ihm gebauten noch im Rohbau befindlichen Häusern. Die hat er an Personen vermietet, denen es nicht nur um reinen Wohnraum, sondern auch um soziale Integration geht. Das kleine Dorf als Wohnform der Zukunft für Jung und Alt – nicht nur für Wilfried Ilgauds scheint das eine zukunftsfähige Alternative zum Leben in Trabantenstädten, auch wenn es im ersten Moment vielleicht amüsiere. „Ich bin sprachlos“, ist Initiative-Sprecher Dieter Zorbach fasziniert von den vorgestellten Ergebnissen. „Schließlich sind wir hier nicht in Berlin, noch nicht mal in Nastätten, sondern in Dessighofen.“ Bernd-Christoph Matern

Zu den Fotos:

Kleines Ort, hohe Lebensqualität: Inmitten des Naturparks Nassau sieht Ortschef Wilfried Ilgauds unter den Dächern von Dessighofen ein Wohn- und Lebensmodell, das den Vergleich zu großen Städten nicht scheuen muss.

Anna-Laura Groß und Alexander Vatter-Riemke sind zwei von sieben „First Respondern“, die im Notfall schnell zur Stelle sind, um in der kleinen Gemeinde Erste Hilfe zu leisten, bevor der Rettungswagen eintrifft. Fotos: Bernd-Christoph Matern