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Sonntagsgedanken

Was ich nicht sehe

RHEIN-LAHN. (7. November 2021) Die folgenden Sonntagsgedanken von Dekanin Renate Weigel regen zum Nachdenken darüber an, was Menschen sehen und nicht sehen:

Ich sehe den Vogel schon lange still sitzen; ich sehe nicht die Verletzung seines Flügels.

Ich sehe den wüsten Garten; ich sehe nicht die Lebendigkeit der Igel im Gestrüpp.

Ich sehe die Anmut der Frau; ich sehe nicht ihre nächtlichen Albträume.

Ich sehe das Bild eines Flüchtlings, der am Grenzzaun laut schreit; ich sehe nicht die innige Liebe zu Frau und Kindern in seinem Herzen.

Ich sehe im Gottesdienst fünf Menschen in den Bänken; ich sehe nicht, was sie bewegt.

Ich sehe die Furchen auf Deiner Stirn; ich sehe nicht die lebenslange Neugierde, die sie eingegraben hat.

Ich sehe Essensreste auf dem Hemd des alten Mannes; ich sehe nicht die Güte und Klugheit, mit der er die Jahrzehnte seines Lebens bewältigt hat.

Ich sehe nicht, was in den Nachbarhäusern vor sich geht.

Ich sehe nicht, ob die Toten noch da sind.

Ich sehe nicht, wovon du träumst.

Ich sehe nicht, was sich im Winter unter der Schneedecke vorbereitet.

Ich begegne vielen Menschen; nur die wenigsten zeigen mir ihre Tränen.

Ich sehe viel mehr nicht als ich sehe.

Trotzdem meine ich zu verstehen.

Trotzdem bilde ich mir mein Urteil.

Trotzdem weiß ich Bescheid.

Trotzdem handle ich aufgrund des Wenigen, was ich sehe.

Wäre ich eine andere, wenn ich mehr sehen könnte?

Wie brüchig mein Urteil ist!

Eine Portion Unsicherheit im Alltag erscheint mir mehr als angemessen. Erlaube ich sie mir?

Was sehen Sie gerade nicht?

Renate Weigel, Dekanin Nassauer Land