Nein, meine Söhne geb ich nicht!

Dekanin Renate Weigel zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs

RHEIN-LAHN. (8. Mai 2020) Heute jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 75. Mal. Dekanin Renate Weigel hat dafür die folgenden Gedanken für die Website des Dekanats geschrieben, die auf dem biblischen Wort "Friede sei mit dir!" basieren. Ein Blick zurück und nach vorn. Am Ende des Beitrags finden Sie eine gestaltete PDF-Datei, die Sie auch gern ausdrucken und an Interessierte weitergeben können.

 

„Friede sei mit euch!“    Lukas 24, Vers 36

 

„Nein, meine Söhne geb ich nicht!“ 1986 machte der Sänger Reinhard Mey mit seinem Lied Furore. Der junge Vater lehnt darin den Dienst an der Waffe und jeglichen Kriegsdienst schlicht ab.

Ich unterschreibe bis heute jede Zeile dieses Liedes. Nicht nur als Mutter und Großmutter. Wir haben unsere Kinder nicht für einen Krieg in diese Welt geschickt! Als die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft wurde, war ich sehr erleichtert.

Wenn ich weiter zurückdenke, taucht eine Kindheitserinnerung zum Thema auf:

Wurde bei uns im Dorf ein Kind geboren, fragten die Frauen: Was ist es denn? Ein Mädchen? Wie gut! Dann muss es nicht in den Krieg!

Dabei war es genau diese Generation, die den Krieg zuvor ersehnt und begrüßt hatte. Die jungen Mädchen, zumindest auf dem Land, erhofften sich Abenteuer und Abwechslung. Die Jungen brannten darauf, Soldaten und Helden zu werden. Schnell wurden Sie eines anderen belehrt!

Ich habe als Kind die Männer im Dorf schweigsam erlebt. Unsere Väter hatten nachts Albträume. Viele Frauen waren Witwen oder ledig Gebliebene. Wenn wir Heranwachsende reden wollten über Krieg, Nationalsozialismus, Konzentrationslager, stießen wir auf Abwehr. Ging es um Juden, wurde die eisig.

Trotzdem und daneben erreichte mich aber auch eine andere Botschaft: „Wir haben Menschen als Feinde betrachtet, die wir gar nicht kannten. Dabei waren das doch auch Mütter und Väter und Kinder. Manche trugen Kreuze. Wie dumm, wie falsch war das!“ Ich wurde ermuntert, Sprachen zu lernen und zu reisen: „Lernt die Menschen hinter den Grenzen kennen! Dann müsst ihr nicht schießen!“ Der Gedanke „Europa“ hat uns als 16 -, 17-Jährige total begeistert. Er versprach Frieden. Was ist daraus geworden?

 „Friede sei mit euch!“

Was haben wir Christenmenschen beizutragen?

Eine Frau hat versucht, ein Mal im Leben die Bibel ganz zu lesen. Sie sagt mir: „Ich bin erschrocken, wie viel Gewalt in dem Buch steckt.“ Mich wundert das weniger. Fast alle Texte in der Bibel sind in Kriegs- oder Nachkriegszeiten entstanden, unter Fremdherrschaft im Exil oder Besatzung im eigenen Land. Die biblischen Schriften sind nah bei den Menschen, sie spiegeln Lebensrealitäten wieder. Umso erstaunlicher ist es, dass sich ein anderer Bogen durch Jahrhunderte in der Bibel zieht: Wenn „Gott“ gesagt wird, sind „alle Völker“ angesprochen.

So beginnt die Bibel: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ Und aus der Erde formte er einen Erdling: Mensch.

Schon der Abrahamssegen richtete sich an „alle Völker der Erde“.

Eine der schönsten Friedensvisionen findet sich im Propheten Jesaja (25,6). Die Völker der Erde treffen sich auf dem heiligen Berg und sind von Gott eingeladen zum „fetten Mahl“.

Der „Geringste unter meinen Brüdern“ zeigt das Gesicht Jesu, nicht nur unter unseren Landsleuten. Und Jesu schickt seine Jüngerinnen und Jünger: „Gehet hin in alle Welt.“

Wenn von „Gott“ und „Friede“ die Rede ist, dann meint das übrigens in der Bibel nie (nur) einen innerlichen Seelenzustand. Friede geht mit Gerechtigkeit einher, sonst ist er kein Friede. Und wir wissen schon lange, dass die Bewahrung der Schöpfung dazu gehört.

„Friede sei mit euch!“

Was ist zu tun?

Ich habe in meinem Leben bisher keinen Krieg erlebt. Gott sei Dank! Aber Friede ist auch nicht.

Durch unsere Lebensweise fördern wir Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg in anderen Ländern. Wir verdienen Geld an den Kriegen, die geführt werden. Wir leben zu Lasten von Menschen, Tieren und Umwelt. Damit können wir uns nicht abfinden!

Dazu kommen wir aus einem fatalen Denkmuster nicht heraus, das immer zwei Schachteln hinstellt: Wir und die Anderen. In diese Falle tappen nicht nur Religionsgemeinschaften; die Länder Europas stecken in ihr fest. Wir und die Anderen: wir sind gut, ihr seid schlecht; wir zuerst, ihr kommt dann; wir sind zu schützen, ihr seid die Feinde… Auf solchem Boden wächst kein Friede.

Dabei sind die „wirs“ doch oft auch anders. Und bei „den Anderen“ kann ich unerwartet „wir“ finden. Gott meint mich und meine vermeintlichen Feinde auch. Wir gehören mit allen anderen sowieso zusammen, von Anfang an und solange die Erde sich dreht.
Gott schenkt uns Frieden, und er will, dass wir ihn stiften.

Soll ich träumen? – Ich nehme Träume ernst:
Nein, meine Söhne nicht und gar kein Kind mehr wird geopfert für einen Krieg. Und kein Menschenleben mehr für Wohlstand! Die „Wirs“ verbünden sich mit den „Anderen“ weltumspannend zu Schwestern und Brüdern. Wir riskieren es, Vertrauen zu haben. Kaufen-Benutzen-Wegwerfen ist nicht länger die Hauptdynamik in unserem Leben. Wir fangen an zu genießen, was da ist.

Das Leben ist kurz. Es ist ein Hauch und kostbar zugleich. Es ist schön.

Friede sei mit euch!

 

Eine gestaltete PDF-Datei können Sie hier herunterladen.

Ein Video des Beitrags finden Sie hier

Zum Gemälde:
„Die abrahamitischen Religionen“ hat die Künstlerin Ulrike Wenzel-Schütz ihr Ölgemälde in der evangelischen Johanniskirche Nassau genannt.