
Sonntagsgedanken
Was ich nicht sehe
RHEIN-LAHN. (7. November 2021) Die folgenden Sonntagsgedanken von Dekanin Renate Weigel regen zum Nachdenken darüber an, was Menschen sehen und nicht sehen:
Ich sehe den Vogel schon lange still sitzen; ich sehe nicht die Verletzung seines Flügels.
Ich sehe den wüsten Garten; ich sehe nicht die Lebendigkeit der Igel im Gestrüpp.
Ich sehe die Anmut der Frau; ich sehe nicht ihre nächtlichen Albträume.
Ich sehe das Bild eines Flüchtlings, der am Grenzzaun laut schreit; ich sehe nicht die innige Liebe zu Frau und Kindern in seinem Herzen.
Ich sehe im Gottesdienst fünf Menschen in den Bänken; ich sehe nicht, was sie bewegt.
Ich sehe die Furchen auf Deiner Stirn; ich sehe nicht die lebenslange Neugierde, die sie eingegraben hat.
Ich sehe Essensreste auf dem Hemd des alten Mannes; ich sehe nicht die Güte und Klugheit, mit der er die Jahrzehnte seines Lebens bewältigt hat.
Ich sehe nicht, was in den Nachbarhäusern vor sich geht.
Ich sehe nicht, ob die Toten noch da sind.
Ich sehe nicht, wovon du träumst.
Ich sehe nicht, was sich im Winter unter der Schneedecke vorbereitet.
Ich begegne vielen Menschen; nur die wenigsten zeigen mir ihre Tränen.
Ich sehe viel mehr nicht als ich sehe.
Trotzdem meine ich zu verstehen.
Trotzdem bilde ich mir mein Urteil.
Trotzdem weiß ich Bescheid.
Trotzdem handle ich aufgrund des Wenigen, was ich sehe.
Wäre ich eine andere, wenn ich mehr sehen könnte?
Wie brüchig mein Urteil ist!
Eine Portion Unsicherheit im Alltag erscheint mir mehr als angemessen. Erlaube ich sie mir?
Was sehen Sie gerade nicht?
Renate Weigel, Dekanin Nassauer Land
Was wird werden?
Sonntagsgedanken von Dekanin Renate Weigel zum Krieg in der Ukraine
RHEIN-LAHN. (6. März 2022) Der Krieg und das Leid in der Ukraine bewegen die Christen. „Was wird werden?“, fragt die Dekanin des evangelischen Dekanats Nassauer Land Renate Weigel in den folgenden Sonntagsgedanken und spricht dabei auch das breite Spektrum an Meinungen an, die derzeit in der Kirche diskutiert werden.
’s ist Krieg
Ich komme dieser Tage an einer Gruppe älter gewordener Männer vorbei. Sie unterhalten sich lautstark. Nein, es sind keine Kriegsveteranen. Aber sie waren alle „beim Bund“, haben Militärdienst geleistet. Nun ist scheinbar die Zeit gekommen, die alten Geschichten wieder auszukramen. Unter dem Motto: Das waren noch Zeiten!
Ich bin da nicht. Ich bin eher bei den Müttern und Großmüttern meiner Kindheit. Ich bin mir sicher, sie drehen sich im Grabe um. Krieg wird wieder salonfähig? Das darf doch nicht wahr sein!
Mit der Geschichte meiner Familie im Nacken – mein Vater war Soldat, zwei Brüder meiner Mutter sind gefallen, und das ist nur ein Teil vom Ganzen – kann ich Aufrüstung und Waffenlieferung nicht gutheißen. Jede Waffe, die geliefert, genommen, abgefeuert wird, vernichtet.
Und wie schwer ist es, dann wiederaufzubauen.
Trotzdem sehe und respektiere ich das Bemühen unserer demokratisch gewählten Regierung. Ich glaube, dass das Suchen nach friedlichen Lösungen groß ist. Ich verstehe, dass wir uns in unseren Bündnissen verhalten müssen. Wer möchte in diesen Tagen mit den verantwortlichen Politikerinnen und Politikern tauschen?
Was sagt Kirche dazu? Ich nehme ein Spektrum wahr von Pazifismus und Kriegsgegnerschaft auf der einen bis zu der Meinung, dass wir die Ukraine und unsere Partner in EU und Nato nicht allein lassen können, auf der anderen Seite.
Was tut Kirche? Sie betet. Dank an alle, die Räume und Möglichkeiten eröffnen, gemeinsam für den Frieden zu beten!
Sie arbeitet alltäglich und vor Ort für den Frieden, dessen Rezept sich in Wörtern wie Respekt und Barmherzigkeit verrät.
Sie wird da sein, wenn Menschen kommen, wenn Hilfe bereitgestellt werden muss. Wie das aussehen wird? Das müssen wir gemeinsam mit vielen anderen finden.
Sie wird hoffentlich die anderen nicht vergessen, die auch im Krieg leben, die schon lange an unsere Grenzen klopfen, die uns immer noch brauchen.
Noch steckt uns Corona in allen Knochen, da sind wir auf’s neue verunsichert. Was wird werden?
Uns bleibt und uns verbindet Gottvertrauen.
Uns bleibt und uns verbindet wieder einmal mehr die Aufgabe, Mensch zu sein für die Menschen Gottes.
Der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Renate Weigel, Dekanin
Hier können Sie die Gedanken von Dekanin Weigel als PDF-Datei herunterladen, um sie auszudrucken und an Interessierte weiterzugeben.